Jorge Semprún – Der Initiator
Der Anstoß zur Gründung der Stiftung Ettersberg geht auf den 2011 verstorbenen spanischen Schriftsteller und ehemaligen Buchenwaldhäftling Jorge Semprún zurück. Semprún verstand sich als Europäer und hielt in seinem literarischen Werk nicht nur die Erinnerung an Buchenwald wach, sondern erteilte jedweder Form politischer Gewaltherrschaft eine klare Absage. Am 9. Oktober 1994 wurde Jorge Semprún für sein Lebenswerk der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In seiner Dankesrede regte er an, den Weimarer Ettersberg, auf dem sich zwischen 1937 und 1945 das nationalsozialistische Konzentrationslager Buchenwald und von 1945 bis 1950 das sowjetische Speziallager Nr. 2 befunden hatten, als Bezugspunkt der doppelten Diktaturerfahrung der Deutschen in europäischer Perspektive fruchtbar zu machen. Die Stiftung Ettersberg fühlt sich diesem Impuls verpflichtet. Sie versteht sich als Forschungs- und Bildungseinrichtung, welche die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in vergleichender Perspektive in den Blick nimmt.
Jorge Semprún (1923–2011)
Ankunft in Weimar
Jorge Semprún wird im Januar 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Er war aufgrund seiner Untergrundtätigkeit gegen die deutschen Besatzer in Frankreich verhaftet, verhört und gefoltert worden. Semprún wird früh zu einem politisch denkenden Menschen. Er wächst in einer großbürgerlichen linksliberalen Intellektuellenfamilie in Madrid auf, welche 1936 nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges über Genf nach Paris flüchtet. Dort studiert er Philosophie und nimmt Kontakt zur Résistance auf. Gleichzeitig liest er deutsche Philosophen, sodass die deutsche Geisteskultur zu einem unverrückbaren Teil seiner intellektuellen Heimat wird. Zeit seines Lebens bleiben Weimar und der Ettersberg für ihn zwiespältige Orte als Symbole deutscher Geistestradition und der zerstörerischen Realität des Konzentrationslagers.
Im Konzentrationslager Buchenwald
Als Kommunist erhält Jorge Semprún von den politischen Gefangenen Buchenwalds eine Stelle im Kommando der »Arbeitsstatistik«, was ihm vermutlich das Leben rettet. Er führt und korrigiert jene Listen und Karteien, welche die Einteilung der Häftlinge in die Außenkommandos von Buchenwald, die Todesfälle und den Abtransport von Häftlingen zu den Tötungsorten im besetzten Polen verzeichnen. Ihm kommt dabei eine lebensentscheidende Schlüsselposition zu: Befindet sich auf einer der Listen ein Häftling, der für die kommunistische Widerstandsgruppe im Lager von Bedeutung ist, wird er mit einem anderen Gefangenen ausgetauscht.
Die Bedeutung Buchenwalds für Semprúns Leben und Werk
Die existentielle Erfahrung im Konzentrationslager Buchenwald prägt Semprúns weiteres Leben und Schaffen. Sie nimmt ihm nach der Befreiung zwanzig Jahre lang die Fähigkeit zu schreiben. Später wird der Tod ein zentrales Thema seiner Werke. Eines seiner bekanntesten autofiktionalen Bücher zum KZ Buchenwald charakterisiert die inneren Auseinandersetzungen Semprúns mit seinen Erinnerungen bereits im Titel: Schreiben oder Leben (L’Ecriture ou la Vie, 1994). Erst seit den 1960er Jahren kann Jorge Semprún über Buchenwald schreiben. In Die große Reise (Le Grand Voyage, 1963) wagt er sich an eine erste Beschreibung seiner Erlebnisse. Sein Roman Was für ein schöner Sonntag! (Quel beau dimanche!, 1980) legt ein umfassendes Zeugnis seiner Kriegserfahrung und seiner Gefangenschaft auf dem Ettersberg ab. Er schreibt fortan, um seine Erfahrungen weiterzutragen und um die eigene Erinnerung zu verarbeiten, die durch das Schreiben wachgehalten wird. Die literarische Form ist für ihn die einzige, welche die Realität des Lagers wenigstens annähernd adäquat beschreiben könne. Gleichzeitig wird das Bewusstsein, dem allgegenwärtigen Tod in Buchenwald entronnen zu sein, für ihn zur Kraftquelle. Sie verleiht ihm die Stärke, im spanischen Untergrund gegen die Franco-Diktatur Widerstand zu leisten. Außerdem gründet in der gemeinsamen Lagererfahrung eine tief empfundene »Brüderlichkeit« seinen Mithäftlingen gegenüber. Der Gedanke internationaler Solidarität, dem Semprún als Linksintellektueller ohnehin nahesteht, gewinnt im Kontext der Buchenwalderfahrung eine neue Dimension. Doch seine Überzeugung, für die »richtige«, d.h. kommunistische Weltanschauung eingetreten zu sein, wird erschüttert, als er vom sowjetischen Lagersystem des Gulag erfährt. Die Erkenntnis, dass auch Kommunisten zu vergleichbaren Formen politischer Gewalt greifen, stürzt ihn in eine tiefe Sinnkrise und lässt sein bereits angespanntes Verhältnis zur Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) zerbrechen. Die Entfremdung ist wechselseitig: 1964 wird er aufgrund »ideologischer Abweichungen« aus der Partei ausgeschlossen.
»Der Hügel des Ettersbergs als Sitz einer europäischen Institution«
Jorge Semprúns selbstgestellte Aufgabe war es, beständig seine Erinnerung an das Lager Buchenwald weiterzutragen, um in der Auseinandersetzung mit dieser ein friedliches, demokratisches und geeintes Europa zu ermöglichen. Der Weimarer Ettersberg nahm dabei für Semprún eine einzigartige Stellung ein: Mit Goethes und Eckermanns Spaziergängen, dem Konzentrationslager Buchenwald und dem sowjetischen Speziallager Nr. 2 steht er gleichermaßen für deutsche Kultur und die Gewaltherrschaft zweier Weltanschauungsdiktaturen. Er verweist auf die nationalsozialistische wie auf die kommunistische Diktatur und ist damit ein zentraler Ort der europäischen Geschichte. Den Ettersberg als Erinnerungsort einer doppelten Diktaturerfahrung zu begreifen und zum Ausgangspunkt einer europäisch vergleichenden Diktaturforschung zu machen, ist Leitgedanke der Stiftung Ettersberg.