Hausgeschichte
Von der Grünanlage zum Gefängnis
Im Mittelalter ist das Wort »Andreasstraße« ein Straßenname wie jeder andere. Namensgeberin ist die benachbarte Sankt Andreaskirche. Ihr gegenüber entsteht im 19. Jahrhundert ein Park, das Luisenthal. Nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 muss die Grünanlage zwei Staatsbauten weichen: 1874 wird der Grundstein für das Gerichtsgebäude gelegt. Ein Jahr später beginnt der Gefängnisbau, der 1878 vollendet wird.
Das T-förmige Gefängnisgebäude fasst zunächst etwa 100 Gefangene. Im Lauf der Jahre wird die Kapazität auf über 300 Häftlinge erweitert. Das Haus dient als Gerichtsgefängnis und als Haftanstalt für Verurteilte mit kurzen Freiheitsstrafen. Die Behandlung der Insassen ist zunächst auf einen humanen, reformorientierten Strafvollzug ausgerichtet.
Haftort in wechselnden politischen Systemen
Im Lauf der Zeit wandelt sich der Umgang mit den Häftlingen in der Andreasstraße, ebenso die Rechtsprechung im benachbarten Gericht: Auf die preußische Justiz der Kaiserzeit folgt das Rechtswesen der Weimarer Republik, das noch stark durch monarchistisch eingestellte Richter geprägt ist. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 entwickelt sich das Gerichtsgefängnis in der Andreasstraße zu einem Ort der Unterdrückung Andersdenkender. Zahlreiche Menschen werden hier aus politischen Gründen inhaftiert. Während des Zweiten Weltkriegs erreichen Terror und Verfolgung durch die Nationalsozialisten ungeahnte Ausmaße. Die Zahl der verhängten Todesurteile nimmt stetig zu. Die durchschnittliche Tagesbelegung im Jahr 1944 beträgt in der Andreasstraße knapp 400 Gefangene.
Nach Kriegsende 1945 steht das reparaturbedürftige Gefängnis unter sowjetischer Verwaltung. Einzelne Zellen nutzt die sowjetische Geheimpolizei als Haftort für politische Gefangene, die dann ins Speziallager Nr. 2 nach Buchenwald transportiert werden. Ab 1948 übernimmt die deutsche Verwaltung das Gefängnisgebäude.
Stasi-Untersuchungshaftanstalt 1952-1989
Nach Gründung der DDR 1949 wird die Haftanstalt zunächst allein von der Polizei genutzt. Ab 1952 teilt sich das Ministerium des Innern (MdI) das Haus mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Kriminelle Häftlinge sitzen zumeist in Polizeihaft im Keller und im Erdgeschoss. Politische Häftlinge werden beim MfS in der ersten und zweiten Etage inhaftiert. Modernisierungsmaßnahmen in den Zellen finden erst Ende der 1960er Jahre statt. Es werden WCs, Waschbecken und Heizungen installiert. Bis dahin entspricht die Einrichtung dem Standard der Entstehungszeit: mit Kohleöfen, Wasserkrügen und Kübeln. Insgesamt warten zu DDR-Zeiten über die Jahre mehr als 6.000 politische Häftlinge, Männer als auch Frauen, in der Andreasstraße auf ihr Urteil.
Das Erfurter Bezirksgericht verhängt gegen Menschen, die sich der SED-Diktatur widersetzen, drastische Strafen. Dabei legt die SED-Führung in Absprache mit dem MfS das Strafmaß fest. Die DDR-Justiz ist ein Herrschaftsinstrument der Staatspartei. Bis in die 1980er Jahre werden Todesurteile verhängt.
Erste Stasi-Besetzung 1989 in der Andreasstraße
Am 4. Dezember 1989 besetzen couragierte Erfurter*innen die Stasi-Bezirksverwaltung in der Andreasstraße und nutzen leere Zellen zur Sicherstellung von MfS-Aktenmaterial. Es ist der Anfang vom Ende der DDR-Geheimpolizei und ein Meilenstein der Friedlichen Revolution.
Nach der deutschen Wiedervereinigung und Gründung des Bundeslandes Thüringen 1990 werden Teile des Gebäudekomplexes in der Andreasstraße noch bis 2002 als Haftanstalt weitergenutzt. Danach verfällt das Areal. Jahrelang stehen die Zellen leer.
Vom Unterdrückungsort zum Ort der doppelten Erinnerung
Abrisspläne rufen 2003 die Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V. auf den Plan, einen Verein ehemaliger Akteur*innen der Friedlichen Revolution. Gemeinsam mit der Thüringer Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen engagieren sie sich für den Erhalt des alten Gefängnisgebäudes und die Einrichtung eines Gedenk- und Bildungsortes. Ab 2005 finden Ausstellungen in der »Andreasstraße« statt, kuratiert von dem Künstler Manfred May, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen beginnen mit Führungen durch das Haftgebäude. Ab 2007 setzt sich der Verein Freiheit e.V., eine Interessensvertretung ehemaliger politischer Häftlinge, für eine Gedenkstätte ein. Wenig später beteiligt sich auch die Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. an der öffentlichen Debatte.
Nach zum Teil heftigen Kontroversen um die Ausrichtung eines künftigen Lernortes wird 2012 die Stiftung Ettersberg vom Freistaat Thüringen mit der Trägerschaft über die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße betraut. Gemeinsam mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie externen Fachleuten erarbeiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Ettersberg ein zukunftsweisendes Konzept für einen Ort der doppelten Erinnerung: an Unterdrückung in der SED-Diktatur und an die Friedliche Revolution. Im Dezember 2012 wird die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße feierlich eröffnet, ein Jahr später die Dauerausstellung »HAFT, DIKTATUR, REVOLUTION: Thüringen 1949-1989«.